Underdog Stories gehören zum Sport einfach dazu, auch wenn sie in vielen Sportarten immer unwahrscheinlicher werden. 2007 gewann der VfB Stuttgart die deutsche Fußballmeisterschaft der Herren. Rund 15 Jahre später wirkt es wie aus einer anderen Welt. Ähnlich überraschend ging es 2016 in England zu, als der – nicht despektierlich gemeint – Provinzverein Leicester City die Größen der Premier League aussach und die englische Meisterschaft gewann.
Auch im US Sport gibt es diese Geschichten, auch wenn sie anderen Ursprungs sind, da ja letztlich gleiche finanzielle Voraussetzungen herrschen. Eine dieser Geschichten spielte sich in der 2017er Saison der NFL ab. In Philadelphia, einer Stadt, welche die Underdog-Begrifflichkeit wohl mehr verkörpert als jede andere.
Philadelphia ist die sechstgrößte Stadt der USA, gilt als eine der passioniertesten Sportstädte des Landes. Ob die Eagles in der NFL, Flyers in der NHL, 76ers in der NBA oder die Baseball-Fans der Phillies – Fans aus der Stadt der brüderlichen Liebe sind leidenschaftlich, fanatisch und ja, manchmal schlagen sie auch über die Stränge.
Was Philadelphia nicht ist: Eine erfolgsverwöhnte Stadt. Jedenfalls in der jüngeren Vergangenheit. In den 50ern bis 70ern ging so mancher Titel der Big 4 Sportarten nach Philly, auch die Eagles gewannen die NFL drei Mal bevor es den Super Bowl gab. Aber nach dem Sieg der Philadelphia 76ers in der NBA 1983 begann eine lange Zeit der sportlichen Dürre. Flyers und Phillies erreichten zwar öfters die Endspiele, aber der große Erfolg blieb aus. Erst nach 25 Jahren gelang den Phillies 2008 der Triumph in der World Series.
In der Zwischenzeit wurde jemand anderes zum berühmtesten Sportler Philadelphias. Ein echter Underdog, aus den Tiefen der Stadt hochgearbeitet bis zum Weltmeistertitel. Einziges Problem: Es ist ein fiktiver Sportler. Rocky Balboa, der Leinwand-Boxer verkörperte die Mentalität der Stadt und wurde mit einer eigenen Statue gewürdigt, nahe den „Rocky Steps“ am Philadelphia Museum of Art. Den Treppenstufen, die im 1976 erschienenen ersten Rocky Film so prominent gewürdigt wurden. In der serbischen Stadt Žitište gibt es übrigens ebenfalls eine Rocky-Statue. Was auch immer da der Zusammenhang sein mag…
Was hat das nun alles mit der NFL zu tun?
Nun, besonders wenig erfolgsverwöhnt waren die Fans der Philadelphia Eagles. Seit der Super Bowl Era gab es lange nur zwei Endspielbesuche, die aber in Niederlagen endeten. 1980 und 2004. Mit Dick Vermeil und Andy Reid hatten die Eagles damals sehr namhafte Trainer, aber es reichte eben nicht für mehr. Bis 2017.
Anfang 2016 sah es alles noch ziemlich düster aus. Die Eagles hatten mit Spielern wie Brandon Graham und Fletcher Cox einiges Talent, aber in drei Jahren unter Head Coach Chip Kelly war auch vieles schief gelaufen. Spätestens als man Kelly 2015 zusätzlich den Job des General Managers gab und den bisherig zuständigen Howie Roseman auf einen reinen Schreibtischjob weglobte. Roseman bekam 2016 zwar nicht offiziell, aber de facto seinen alten Job zurück und sollte nun wieder ein Team aufbauen.
Es fehlte eine wirkliche Lösung auf Quarterback, denn der ein Jahr zuvor ertradete Sam Bradford lieferte nur das Mittelmaß, welches die meisten erwartet hatten. Dazu brauchte es einen neuen Head Coach. Den fand man im Trainerstab der Kansas City Chiefs. Man wollte zurück zu dem Erfolg der 00er Jahre unter Andy Reid und nahm sich also dessen Offensive Coordinator Doug Pederson. Ein ehemaliger Backup Quarterback, der auch schon als Spieler und Assistent unter Reid für die Eagles tätig war.
Pederson bekam dann direkt den Traum erfüllt, den sich viele Head Coaches träumen: Einen der Top Rookie Quarterbacks des Drafts: Carson Wentz. Der 2016er Draft war ein Duell um den First Overall zwischen Wentz und Jared Goff, für beide tradeten Teams nach oben. Die Rams, frisch nach LA umgezogen, nahmen California Boy Goff, die Eagles den von ihnen präferierten Wentz.
Das Vertrauen in Wentz war hoch, denn nach guten Ansätzen in der Pre Season gab Philadelphia den eigentlichen Starting QB Sam Bradford an die Vikings ab. Was allerdings auch daran lag, dass das Angebot mir einem 2017er Erstrundenpick sehr verlockend war. Zumal die Eagles den eigenen 2017er für Wentz geopfert hatten.
Der Auftakt zur Saison 2016 war stark. Die Eagles starteten mit 3-0, Wentz zeigte sofort gute Leistungen. Doch nach der sehr frühen Bye Week in Woche 4 ging alles bergab. Zwei Siege aus zehn Spielen, am Ende ein Record von 7-9. Aber man blieb ruhig. Mit Alshon Jeffrey und Torrey Smith kamen zwei routinierte neue Wide Receiver. Zuvor waren die Eagles doch arg auf Zach Ertz und Jordan Matthews limitiert, 2016 war 3rd Down Running Back Darren Sproles hinter beiden derjenige mit den meisten Receiving Yards. Dazu kam mit LaGarrette Blunt ein bulliger Runner und mit Nick Foles ein Backup QB, der noch unter Reid in Philly gespielt hatte.
Jake und der Game Check
Die Eagles marschierten durch die Saison 2017, waren vor allem Offensiv sehr konstant. Ein Schlüssel dafür? Das Spiel in Woche 3, die Eagles gegen die Giants. 56 Sekunden Restzeit, die Giants führen mit 3 Punkten. Jake Elliott muss den Ausgleich erzielen. Für ihn ist es das zweite Karrierespiel, eine Woche zuvor musste er für den verletzten Caleb Sturgis übernehmen. Elliott kickt und verwandelt aus 46 Yards. Die Giants schaffen im nächsten Drive kein First Down, mit 19 Sekunden bekommen die Eagles den Ball. Doug Pederson pfeift auf die Verlängerung, die Eagles kommen nochmal mit einem Pass in die gegnerische Hälfte. Ein 61 Yards Field Goal. Im flachen Philadelphia, für einen Rookie im erwähnten zweiten Karrierespiel. Carson Wentz steht an der Seitenlinie, der Quarterback kündigt dem Team gegenüber an Elliott sein Spielgehalt zu geben, wenn dieser verwandeln sollte.
Elliott läuft an und Elliott verwandelt mit ablaufender Uhr. Franchise Record. Ein Moment, der dich in eine Saison richtig reinpushen kann.
Das Geld lehnte Elliott anschließend aber ab. Stattdessen gingen die rund 30.000 Dollar an eine wohltätige Einrichtung.
Bis Woche 13 konnte das Team von Doug Pederson nur in zwei Spielen weniger als 25 Punkte erzielen. In Woche zwei gegen die Chiefs und in eben dieser Woche 13 gegen die Seahawks. Beides die einzigen Saisonniederlagen bis dahin. QB Carson Wentz spielte auf einem MVP-nahen Level und der Rest funktionierte einfach. Auf den Skill Positions stach nicht mal jemand heraus, kein Eagles Spieler erreichte eine 1000 Yards-Saison. In Woche 14 passierte aber das, wovor alle Eagles-Fans Angst hatten.
Der heilige Saint Nick
Spät im Spiel bei den Rams verletzte sich der bis dahin so starke Wentz und musste vom Feld. Kreuzbandriss, Saisonende. An dem Abend, an dem die Eagles sehr früh das Playoff-Ticket gelöst hatten, da Backup Nick Foles den Sieg über die Zeit brachte. Nun musste jener Foles den Posten dauerhaft übernehmen. Er war 2012 von den Eagles gedraftet worden, hatte 2013 eine fast märchenhafte Saison mit einer 27-2 Touchdown zu Interceptions-Rate und einem perfekten Spiel gegen die Raiders, denen er sieben Touchdowns einschenkte. Bis heute haben nur sieben andere Quarterbacks sieben Touchdowns in einem Spiel geworfen, zuletzt Drew Brees 2015.
Foles hatte das Niveau aber nicht ins kommende Jahr übertragen können. Er verlor das Vertrauen von Chip Kelly und wurde dann 2015 gegen Sam Bradford eingetauscht. In seiner neuen Heimat bei den Rams lief es aber auch schlecht und Foles musste nach einem Jahr wieder gehen, wurde nun Backup bei den Chiefs, ehe es dann 2017 zurück nach Philadelphia ging.
Nun musste er es richten.
Das Playoff-Ticket war zwar sicher, aber die Bye Week keinesfalls. Damals ging selbige zwar noch an die ersten beiden je Conference, aber die Saints lauerten mit nur einem Sieg weniger. Foles erster Eagles-Start nach 3 Jahren war spektakulär. 4 Touchdown-Pässe zum 35-29 Sieg bei den Jets. In Woche 16 lief es ruppiger ab, dennoch gewannen die Eagles mit 19-10 gegen Oakland und sichern sich die Bye Week. Das letzte Saisonspiel gegen Dallas war nur noch Makulatur, die B-Elf verlor mit 0-6 in einem absoluten Offense-Stinker von einem Spiel.
In der Divisional Round ging es gegen die Atlanta Falcons. Der Vorjahresfinalist hatte sich in der Wild Card deutlich mit 26-13 gegen die Los Angeles Rams durchgesetzt. Die Erwartungen an das Eagles Team sind trotz des Number 1 Seeds stark gedämpft, alle sehen im Team den Underdog und die Eagles machen sich das zu Nutzen, setzen voll auf die „Nothing to lose“-Mentalität. Die Spieler beider Lines verwandeln sich wortwörtlich in Underdogs und tragen rund um die Spiele regelmäßig Hundemasken.
Die Eagles gewinnen das Spiel gegen die Falcons am Ende glanzlos mit 15-10. Die Defense steht, die Offense müht. Jake Elliott verwandelt drei Field Goals, nachdem er den Extrapunkt nach dem einzigen Eagles-Touchdown verpasst hatte.
Super Bowl Vor-Gala
Im Conference Championship erwarten die Eagles die Minnesota Vikings. Für die Vikings gibt es zusätzliche Brisanz, denn der Super Bowl findet in ihrem neuen Stadion statt. Der Traum vom ersten Super Bowl Triumph und dies vor den eigenen Fans. Doch der Traum zerplatzt, drastisch. Nachdem der erste Vikings Drive noch sieben Punkte aufs Konto bringt, geht für die Wikinger danach gar nichts mehr. Vikings QB Case Keenum, ursprünglich ebenfalls nur Backup, leitete mit einem Pick 6 ein 38-7 Debakel ein. Sein Gegenüber Nick Foles glänzt mit 3 Touchdowns in einem fast fehlerfreien Spiel.
Im Nachhinein ist der Gedanke an ein NFC Championship Game zwischen den QBs Nick Foles und Case Keenum schon sehr aburd.
Der Super Bowl
Der Gegner der Eagles war das Team, welches irgendwie fast immer da war. Die New England Patriots. Die dominante Maschine der AFC und der amtierende Titelverteidiger. Nick Foles gegen Tom Brady, ungleicher konnte so ein Duell kaum lauten.
Die Eagles kommen besser in die Partie, können die Punktetafel dirigieren. Was aber nichts heißt, immerhin gab es im Vorjahr eine der legendärsten Aufholjagden der Football Geschichte, als sich die Falcons schon mit einer Hand an der Vince Lombardi Trophy wähnten. Doug Pederson bleibt sich im Endspiel treu. Er drückt seine mutige Spielweise durch und lässt sich nicht von Mastermind Bill Belichick oder Brady einschüchtern. Kurz vor der Pause stehen die Eagles ein Yard vor der Endzone, es ist der vierte Versuch. Im Timeout fragt Nick Foles Pederson ob er „Philly Philly“ spielen lassen möchte. Das hatte in der normalen Übertragung natürlich niemand mitbekommen. Daher verwundert es als Foles vor dem Snap mit „Kill Kill“ den vermeintlich geplanten Spielzug abbricht, sich plötzlich hinter Lane Johnson versteckt und vollkommen ungedeckt einen Pass von Tight End Trey Burton fängt. Das Play wird anschließend als „Philly Special“ in die Geschichtsbücher eingehen.
Mit 22-12 geht es in die Pause. Nun hat man den schlafenden Löwen geweckt, ja geradezu provoziert. Tom Brady läuft heiß, aber die Eagles fahren nicht runter, bleiben bei vollster Konzentration. Jeder Drive wird gekontert. Im vierten Viertel droht das Spiel dann aber doch zu Gunsten der Dauersieger aus Neuengland zu kippen. Nach einem Catch von Rob Gronkowski gehen die Patriots erstmals in diesem Spiel in Führung, auch wenn es nur 33-32 steht. Nun stehen die Eagles unter großem Druck, doch Foles treibt sein Team ein weiteres Mal über das Feld, im Wissen nun auch die Uhr bespielen zu müssen. 2:25 Minuten vor Schluss wirft Foles bei 3rd&7 auf Zach Ertz welcher drei Yards vor der Endzone zu einem Hechtsprung ansetzt und ins Glück hinein springt. Die Eagles liegen wieder vorne und wollen per Two Point Conversion auf sieben Punkte davon ziehen. Das misslingt.
Fünf Punkte, ein gereizter Brady und über 2 Minuten Restzeit. In dem Moment sprach alles für die Patriots. Doch dann Schlug die Stunde der Defense. Zuvor hatten beide Verteidigungsreihen Probleme – bei einem Stand von 38-33 offensichtlich. Nun tankte sich DE Brandon Graham durch, schlug Tom Brady den Ball aus der Hand. Derek Barnett war zur Stelle, nahm den Ball auf und brachte Philly nahe der Field Goal Reichweite ins Spiel.
Am Ende verwandelte Jake Elliott aus 46 Yards zum 41-33, jetzt waren es also acht Punkte und nur noch eine Minute. Die reichte Brady nicht mehr, die Eagles gewannen das Spiel. In einer absoluten Offensivschlacht, in der Tom Brady für 505 Yards – Playoff Rekord! – warf, lautete der siegreiche Quarterback Nick Foles. Das Team brachte das nach Philadelphia, was sich Eagles Fans seit mehreren Generationen erhofft hatten. Der als Starter gescheiterte Backup Foles wurde zu Saint Nick und zeigte einmal mehr, dass im Football absolut alles möglich ist. Mit einer spektakulären Geschichte, die zu keiner Stadt besser gepasst hätte als zur Stadt von Rocky Balboa.