Vor ein paar Tagen fragte der Kolumnist Art Thiel aus Seattle bei einer Pressekonferenz Seahawks-Quarterback Russell Wilson, ob der vom #LetRussCook-Hashtag gehört habe und was er davon halte. Natürlich wusste der in den sozialen Medien aktive Wilson Bescheid. Und dann äußerte er sich direkt wie nie zuvor zu dem Thema. Präziser: Er fragte nach dem Kochlöffel: “Je öfter ich den Ball in meinen Händen habe, desto mehr kann passieren.” Auch die Frage, ob er sich mit dem Gedanken hinter dem Hashtag identifizieren könne, bejahte Wilson. Auf die reale Football-Welt bezogen, versteht sich.
Das alles kam fast auf den Tag genau sieben Monate nach dem Déjà-vu in den Playoffs. Wieder waren die Seattle Seahawks in der Postseason an sich selbst gescheitert. Wieder waren sie erst nach der Pause aufgewacht. Und wieder gaben sie zu spät ihrem Elite-Quarterback die volle Kontrolle, um das Spiel noch zu drehen. Der 12. Januar 2020, der Tag, an dem die Seahawks bei den Green Bay Packers ausschieden, war in vielerlei Hinsicht eine Kopie des 5. Januar 2019, als Seattle sich bei den Dallas Cowboys aus der K.-o.-Runde verabschiedete.
Russell Wilson weiß, dass seine Uhr tickt. Natürlich möchte er noch bis in seine 40er Football spielen, aber wer kann so etwas in einer Liga prognostizieren, in der jeder Snap der letzte sein könnte. Cliff Avril, Kam Chancellor und nun auch Branden Jackson können davon erzählen. Weil Wilson weiß, dass sich sein Fenster langsam schließt, war er in der zurückliegenden Offseason lauter als in den vorherigen Jahren. Forderte weitere Stars. Bekam in Jamal Adams einen. Wartete vergeblich auf Jadeveon Clowney, den anderen. Und stimmte in Anwesenheit der Presse ein in die Tweets von Fans und Experten, die mehr Kontrolle über die Seahawks-Offensive für ihn forderten. Wird 2020 das Jahr sein, in dem sie Russell Wilson in Seattle eine Geschmacksexplosion zaubern lassen?
Offense
Die Offensive der Seahawks ist extrem abhängig von Russell Wilsons Magie, das ist kein Geheimnis. Und trotzdem hat der Quarterback inzwischen ein ordentliches Team um sich herum, das 2020 in allen Bereichen – Skill-Positionen, O-Line, Play Calling – einen weiteren Schritt nach vorne machen könnte. Es gibt keinen Grund zur Annahme, dass die Seahawks in dieser Saison nicht erneut unter den Top Ten nach Offense DVOA sein werden.
Quarterback
Hier ist längst alles gesagt. Russell Wilson ist aktuell einer der zwei stärksten Quarterbacks der NFL. In vielen Kategorien, beispielsweise als Tiefpasser, bei der PFF-Gesamtnote 2019, im vierten Quarter und bei Rückständen, ist er sogar Ligaspitze. Er bekam nun erstmals auch vor dem ersten Kickoff der Saison ein bisschen MVP-Buzz ab, nachdem er in der vergangenen Spielzeit bis Mitte der Runde der Favorit auf die individuelle Auszeichnung war.
Reduziert Wilson 2020 die immer noch zu häufigen Sacks, weil er auf der Suche nach dem Big Play den Ball zu lange festhält, und bekommt er den Ball früh im Spiel öfter in die Hände, dann werden die Seahawks davon enorm profitieren.
Offensive Line
Größte Schwachstelle der Offensive dürfte wieder einmal die O-Line sein. Nach einem Jahr Aufwärtstrend unter dem damals neuen Coach Mike Solari stagnierte die Positionsgruppe 2019: Liga-Bodensatz bei der Pass Protection, Durchschnitt beim Run Blocking. Nun werden mindestens drei Fünftel des Stammpersonals neu sein und sich ohne jegliche Preseason-Spielpraxis finden müssen. Rookie Damien Lewis beeindruckte im Training Camp als abgeklärter Right Guard, während auf Center der designierte Starter, Neuzugang B.J. Finney, von Allround-Backup Ethan Pocic ausgestochen wurde. Als Right Tackle ersetzt Brandon Shell den ehemaligen Strafen-König der Seahawks, Germain Ifedi. Die linke Seite der Line bleibt mit Tackle Duane Brown und Guard Mike Iupati unverändert – unverändert alt. Da sind noch zu viele Ungewissheiten, als dass man sicher von Verbesserung ausgehen könnte. Aber an der O-Line soll’s mit Russell Wilson sowieso nicht scheitern.
Skill-Positionen
Lehnt man sich zu weit aus dem Fenster, wenn man den talentiertesten Nebendarstellern spricht, die Russell Wilson jemals hatte? Wohl kaum. Tyler Lockett, DK Metcalf, Will Dissly, Greg Olsen und Chris Carson gehören zu den besseren Skill-Gruppen der Liga. Doch alle Genannten haben ihre kleinen Makel. Metcalf war in seiner Rookie-Saison von der Einsatzposition auf dem Spielfeld her limitiert und meist auf der linken Seite zu finden. Olsen ist 35 und kämpfte in den vergangenen drei Jahren mit Verletzungen. Carson hatte 2019 ein Fumble-Problem und bezahlte für seinen physischen Laufstil mit einer weiteren Fraktur. Lockett wird offenbar auch 2020 nicht von der Returner-Rolle abgezogen. Und Dissly hat in zwei Jahren Profikarriere zwei schwere Verletzungen (Patellasehnenriss, Achillessehnenriss) hinter sich.
Trotzdem: Qualität und Quantität stimmen. Dissly und Olsen, wenn beide gesund, eröffnen den Seahawks mit 12 Personnel ganz neue Möglichkeiten in der Offensive. Metcalf und Lockett haben in Person von Phillip Dorsett und Josh Gordon, sofern dessen Sperre aufgehoben wird, weitere im Tiefpassspiel gefährliche Kollegen. Und hinter Carson wartet ein zuverlässiger Carlos Hyde auf Carries, solange Rashaad Penny sich von seinem Kreuzbandriss erholt. Rookie DeeJay Dallas könnte als Hybrid mit Läufer- und Fängerqualitäten zur Geheimwaffe der Offensive werden.
Coaching
Es ist einfach, Offensive Coordinator Brian Schottenheimer für die nicht optimale Ressourcennutzung der Seahawks verantwortlich zu machen, schließlich ist er es, der hinter seinem laminierten Stück Papier die Spielzüge über sein Headset in Russell Wilsons Ohr flüstert. Doch dann würde man ignorieren, dass Schotty Russell Wilson in den vergangenen zwei Jahren dabei geholfen hat, zu einem der zwei Top-Quarterbacks der Liga zu werden. Wilsons Entwicklung von gut zu Elite nach Schottenheimers Ankunft in Seattle ist kein Zufall. Scheming, Effizienz in der Redzone, Wurfmechanik, Anpassungen vor dem Snap und die Nutzung von Play Action sind Aspekte, bei denen der OC Wilson geprägt hat. Gut und schlecht gecallte Spiele hatte er wie jeder andere Coach auch. Trotzdem wird Schottenheimer stets zum Sündenbock gemacht. Seine Vergangenheit bei weniger erfolgreichen Teams unterstützt dieses Narrativ.
Defense
In der Offseason sahen wir einen Head Coach, der gemeinsam mit seinem General Manager die Defensive wieder auf das Niveau von 2012 bis 2015 bringen wollte. Pete Carroll hat seine ganz eigene Vorstellung von Seahawks-Football – und ohne Zweifel war er damit lange Jahre erfolgreich. Was Seattle in der Saison 2019 erfolgreich machte, war aber nicht mehr das Gegner zermürbende Laufspiel von Marshawn Lynch und die stets kompromisslose Verteidigung um Richard Sherman, Earl Thomas, Kam Chancellor, Michael Bennett und Cliff Avril. Diese Zeiten sind lange passé.
Es war vor allem der mindestens zweitbeste Quarterback der Liga, Russell Wilson. Und es war auch ein bisschen das Glück, viele enge Spiele zu gewinnen (Achtung: Regression). Während die Defensive in der Base-Formation nur wenige Gegner stoppte, außer Defensive End Jadeveon Clowney kaum ein Spieler den Quarterback unter Druck setzte und die Secondary reihenweise Big Plays kassierte, lieferte Wilson Woche für Woche – oft einem Rückstand hinterher eilend – Meisterleistungen ab, um Spiele zu drehen. Eine Defensive, die nach DVOA zu den schwächeren der Liga gehörte, konnte aber selbst der Spielmacher nicht kompensieren.
Secondary
Eine logische Schlussfolgerung für die Saison 2020 – neben mehr Kontrolle für Russell Wilson – ist, die eigene Defensive zu stärken. Nach Jahren schlechter Personalpolitik (Trades mit kurzer Haltbarkeit, ein fehlender Nickel-Spezialist und schwache Draft-Ausbeute) passierte das in der Offseason primär durch zwei Trades – und wirkte fast ein wenig verzweifelt. Strong Safety Jamal Adams und Cornerback Quinton Dunbar werden die Secondary immens verstärken. Aber gerade der teure Adams-Trade wird die Seahawks langfristig vor finanzielle Herausforderungen stellen. Neben dem All-Pro-Neuzugang hoffen auch die anderen drei Defensive Backs in den kommenden zwei Jahren auf den großen Zahltag.
Zurück ins Jetzt: Jamal Adams, Quandre Diggs, Shaquill Griffin, Quinton Dunbar – das liest sich wie eine Top-fünf-Secondary. Zu der wird diese Gruppe aber erst, wenn auch der Spieler auf der fünften, der Nickel-Position, stark performt. Glaubt man dem Training-Camp-Hype – und der ist stets mit Vorsicht zu genießen –, dann haben die Seahawks in Safety Marquise Blair endlich ihren neuen Nickel-Cornerback gefunden. Vertraut Carroll ihm, ist auch der Weg zurück zu mehr Nickel kein weiter. Zur Erinnerung: 2017, als Justin Coleman im Slot verteidigte und die Legion of Boom noch existierte, spielten nur zwei Teams öfter mit fünf Defensive Backs als die Seahawks. Es wäre zu einfach, die Base-Frequenz des Teams alleine mit Carrolls konservativer Haltung zu begründen. Sie hat personelle Ursachen, für die der Cheftrainer aber genauso verantwortlich ist.
Erstmals seit 2017 hat Seattle wieder eine Secondary, die dem Defensiv-Spielstil von Pete Carroll gerecht werden kann. Das ist ein echtes Upgrade. Wenn die größte Gefahr ist, dass sich dein Top-Safety in deinem schlichten Cover-3-System langweilen könnte, steht es um deine Passverteidigung wohl nicht so schlecht.
Front Seven
Im Pass Rush fehlt Seattle nach Jadeveon Clowneys Abgang in der Free Agency weiterhinein etablierter Unterschiedsspieler. Jetzt unterschreibt er wohl für mehr als 12 Millionen US-Dollar (15 mit Boni) bei den Tennessee Titans. Das Geld hätten sie in Seattle mit Hilfe von ein paar Cuts in Clowney investieren können und sollen, zumal die Verantwortlichen in der Offseason stets betonten, dass sie den Pass Rush verbessern wollen.
Deckung ist wichtiger als Pass Rush, könnte man jetzt rufen. Aber selbst die beste Secondary ist ohne vernünftige Quarterback-Jäger machtlos. Dafür sind die Seahawks der Saison 2012 das beste Beispiel. Dass die etwas überbezahlten Rückkehrer Bruce Irvin und Benson Mayowa so einschlagen wie 2013 die Glücksgriffe Cliff Avril und Michael Bennett, ist unwahrscheinlich. Aber dass sie nach ordentlichen Leistungen 2019 nun komplett einbrechen, ist ebenfalls nicht realistisch.
28 Sacks 2019 waren desolat. Lichtblick war nur der meist gedoppelte Clowney, der Raum für seine Kollegen schuf. Doch viel schlechter kann es 2020 kaum werden, das gibt ein klein wenig Hoffnung. Das wohl positivste Szenario sähe beim letztjährigen Erstrundenpick L.J. Collier nach unsichtbarer Debüt-Saison den Durchbruch als 5 Tech vor. Rasheem Green steigert sich auch dieses Jahr. Mayowa spielt elitär. Und Rookie-Überraschung Alton Robinson überzeugt nach starkem Camp.
Überraschend wählten die Seahawks im NFL Draft in der ersten Runde einen Linebacker und keinen Defensive End. Darrell Taylor, Zweitrundenpick, beginnt die Saison wie schon einige neue Pass Rusher der Seahawks in der Vergangenheit auf der Verletztenliste. Jordyn Brooks direktester Weg in den Kader führt über die Weakside-Linebacker-Position von K.J. Wright, der auf die andere Seite ausweichen könnte. Die Passverteidigung soll Brooks’ Schwäche sein, doch die Bedenken schwanden nach intensiverer Videoanalyse etwas. In der Mitte ist Bobby Wagner auch nach einer etwas schwächeren (und trotzdem immer noch herausragenden) Saison gesetzt.
Traurige Randnotiz: Die Tiefe bei den Linebackern kostete am Samstag Shaquem Griffin den Kaderplatz. Der Linebacker war dann am effektivsten, wenn er als Speed Rusher in Pass-Situationen aufs Feld kam. Doch aus der Feel-Good-Story wurde zu selten mehr, als dass es einen Platz unter den besten 53 gerechtfertigt hätte. Vielleicht bleibt er über die Practice Squad im selben Team wie sein Zwillingsbruder Shaquill.
Coaching
Ken Norton Jr. war vielleicht der Coach der Seahawks, der nach der Saison 2019 der Entlassung am nähesten war. Er arbeitete mit einer primär in Base-Formation agierenden Defensive, die in Lauf-Situationen überraschend schlecht aussah und in Pass-Situationen überraschend gut (zumindest besser als die Nickel-Formation). Fehlenden Druck auf den gegnerischen Quarterback konnte er durch vermehrtes Blitzen nicht kompensieren. Im Gegenteil: Norton erschwerte damit seiner verunsicherten Passverteidigung die Arbeit.
Mit verbessertem Personal muss nun die Produktion drastisch nach oben gehen, sonst dürfte Norton nicht mehr lange Defensive Coordinator in Seattle sein.
Ausblick
Die Seahawks-Offseason war ordentlich – bis auf die zögerliche Herangehensweise bei der Suche nach einem Pass Rusher. Am Ende ist es vielleicht der eine fehlende überdurchschnittliche Quarterback-Jäger – ob Jadeveon Clowney oder Everson Griffen oder Yannick Ngakoue –, der Seattle von der Ernennung zum heißen Titelanwärter trennt. Vielleicht aber, und das ist mehr Hoffen als Garantie, kommt der nun überraschend aus den eigenen Reihen.
Man darf sich von den Makeln in Pass Rush und Philosophie nicht täuschen lassen. Die Seahawks haben einen guten Kader, der in der NFC West um die Spitzenposition mitspielen kann, aber mit ein wenig Pech auch ans Tabellenende der Division rutschen kann. Möglicherweise läuft es 2020 wie im Vorjahr auf viele enge Spiele hinaus, sodass am Ende wieder wenige Sekunden, Zentimeter oder Punkte über die Playoff-Platzierung entscheiden. Von 10-6 bis 12-4 scheint beim Blick auf den Spielplan alles möglich.
Es gibt da eine Statistik, die besagt, dass die Seahawks einen Record von 56-0 haben, wenn sie zur Halbzeit mit vier oder mehr Punkten führen. Die Hoffnung vieler Fans, dass Pete Carroll seinem Spielmacher Russell Wilson 2020 mit höher frequentiertem Passspiel besonders bei den frühen Downs und früh im Spiel mehr Kontrolle über die Offensive geben wird, ist nicht erloschen. Bei den Waffen, den Zutaten, die Wilson in diesem Jahr zur Verfügung stehen, wäre es töricht, den Meisterkoch ein ums andere Mal Ravioli aus der Dose aufwärmen zu lassen, sprich den Lauf durch die Mitte zu suchen.
Bleiben wir beim Vokabular: Darf Russell Wilson 2020 nicht kochen, wäre das Lebensmittelverschwendung. Bekommen die Fans weiterhin Run-Run-Pass, frühe Rückstände und späte Aufholjagden vorgesetzt, macht sie das vielleicht satt. Aber geschmeckt hat’s irgendwie nicht. Womöglich kocht deshalb am Ende wie in den vergangenen zwei Jahren jemand anders: die hysterischen 12s in den sozialen Medien.